Das Gesetz des Spiegels
Zahlreiche weise Worte in überlieferten Schriften der Rosenkreuzer, aber nicht nur dort, ranken sich um ein Gesetz, das uns tagtäglich in unserem gesamten Leben begleitet, unser Leben beeinflusst und prägt wie kein anderes: Das Gesetz des Spiegels. Einem Suchenden, der sich gerade erst auf den Weg gemacht hat, der, aus welchem Grund auch immer, anfängt, sich mit der Materie des geistigen Wegs zu befassen, sind diese weisen Worte noch unvereinbar mit seinem momentan gelebten Alltag. Die sogenannte Umwelt ist in Wirklichkeit ein Spiegel, in dem jeder Mensch lediglich sich selbst erlebt. Er kann niemals etwas anderes als sich selbst erblicken, weil er aus der wahren, objektiven, für alle Menschen gleichen Gesamtwirklichkeit nur jenes herausfiltert, für was er selbst auch bereit ist. Dies sagen verschiedene Meister, Philosophen und Mystiker, allen voran Meister Jesus mit den folgenden Worten: „Erkenne, was dir vor Augen ist; und was dir verborgen ist, wird sich enthüllen.“ Oder das viel zitierte Wort aus der Hermetik: „Wie oben so unten, wie unten so oben.“
Wenn wir am Morgen in den Spiegel schauen und darin ein Gesicht erblicken, das uns unfreundlich anblickt, so können wir dieses Gesicht wegen seiner Unfreundlichkeit kräftig beschimpfen. Was aber geschieht dann? Das Gesicht lässt sich davon nicht beeindrucken, sondern schimpft genauso kräftig zurück. Wir würden mit dem Badezimmerspiegel unser Treiben niemals eskalieren lassen und ihn letztendlich noch zertrümmern! Doch auf unser tägliches Leben übertragen, zelebrieren fast alle Menschen den beschriebenen Vorgang mit Verbissenheit. Sie kämpfen gegen ihre Feinde in der Umwelt, gegen die bösen Nachbarn und Verwandten, gegen die Ungerechtigkeiten ihrer Vorgesetzten, gegen die Gesellschaft und so weiter… Doch damit kämpfen wir in Wirklichkeit nur gegen uns selbst. Deshalb gibt es auch überall viele Verlierer, kaum Gewinner, denn gegen wen sollte man bei einer Spiegelfechterei gewinnen? Das Gesetz der Resonanz und der Spiegelung gilt natürlich im Positiven wie im Negativen.
Im Spiegel nehmen wir unser Äußeres so wahr, wie es unserem gegenwärtigen Zustand entspricht. Wird sich der Mensch der Spiegelfunktion seiner Umwelt bewusst, so erwächst ihm hieraus eine ungeahnte Informationsquelle. Die Beobachtung der eigenen Umwelt und der Ereignisse, mit denen man konfrontiert wird, ist eine der besten Methoden zur Selbsterkenntnis, denn alles, was uns in der Außenwelt stört, zeigt lediglich an, dass man selbst mit dem analogen Prinzip in sich selbst noch nicht ausgesöhnt ist. Bei nüchterner Betrachtung sind alle Dinge so, wie sie eben sind. Niemand würde sich über die grüne Farbe des Grases aufregen, denn damit wird keine Problematik im Menschen angesprochen. Dass es in der Welt Kriege gibt, ist ebenso wie das Grün des Grases eine Tatsache. Doch darüber erregen sich dann wirklich die Gemüter; und so beginnt man, für den Frieden zu kämpfen. Für alles „kämpft“ man: für Frieden, Gerechtigkeit, Gesundheit, Menschlichkeit. Doch wäre es viel einfacher und erfolgreicher, den Frieden in sich selbst herzustellen. Hier liegt einer der mächtigsten Schlüssel für den, der ihn anzuwenden weiß. Jeder Mensch ist in der Lage, die gesamte Welt nach seiner Vorstellung zu verändern und zu gestalten, ganz ohne Kampf und äußere Macht. Der Mensch braucht nur sich selbst zu ändern, und siehe, die ganze Welt verändert sich mit ihm. Wenn wir das unfreundliche Gesicht im Spiegel sehen und es anlächeln, so wird es zurücklächeln, na klar! Alle Menschen wollen die Welt verändern, doch keiner denkt an die Mittel, die allein zum Erfolg führen. Wer seine Affinität ändert, empfängt ein neues Programm, sieht eine andere Welt. Je bewusster der Mensch wird, umso mehr lernt er die Dinge einzuordnen und nach der verborgenen Information zu fragen. So bleibt die wichtigste Forderung: zu versuchen, mit allem, was ist, in Harmonie zu gehen. Gelingt dies einmal nicht, so suche man in sich selbst den Grund. Der Mensch ist der Mikrokosmos und daher ein genaues Abbild des Makrokosmos. Alles, was ich außen wahrnehme, finde ich auch in mir. Als Beispiel ist jegliches Element, das auf der Erde vorkommt, auch in einem einzigen Tropfen unseres Blutes enthalten.
Sind wir in uns mit den verschiedenen Bereichen der Wirklichkeit in Harmonie, so können uns auch deren Repräsentanten in der Außenwelt nicht stören. Geschieht etwas für uns Unangenehmes, dann ist dies lediglich eine Aufforderung, uns auch noch diesem Bereich in unserem Inneren zuzuwenden. All die bösen Menschen und die unliebsamen Ereignisse sind in Wirklichkeit nur Boten, sind Medien, das Unsichtbare sichtbar zu machen. Wer dies begreift, und bereit ist, die Verantwortung für sein Schicksal selbst zu übernehmen, verliert alle Angst vor dem bedrohenden Zufall.
Der westliche Mensch ist stets bestrebt, seinen materiellen Wohlstand, das Äußere, aufrecht zu erhalten, er definiert sich über das, was er hat und nicht über das, was er von Natur aus ist. Eine Hauptbeschäftigung unserer Zeit sind die Vorsorge und Absicherung gegen die Eventualitäten des Schicksals. Die Absicherungssysteme haben das eine Ziel: durch äußere Maßnahmen Eingriffe des Schicksals zu verhindern oder zu verändern. Hinter all diesen Bestrebungen steht die Angst. Doch erst wenn der Mensch bereit ist, sich selbstverantwortlich dem Schicksal zu stellen, verliert er die Angst. Doch wie wir wissen, hat alles Materielle keine grundlegende Bedeutung. Alles, was wir anfassen und sehen können, ist die Folge, die Manifestation von Geist. Alles ist aus dem Geist geboren. Das Materielle hat keinen dauerhaften Bestand, das Auto ebenso wenig wie der Mount Everest. Alles was ist, ist Geist. Nur wer sich diesem Prinzip der Geistigkeit öffnet, kann sich auch für die Spiegelgesetze öffnen, die auf diesem Prinzip beruhen. Hiermit haben wir die wesentlichen Erkenntnisse des Hermes Trismegistos angesprochen, die für die Anwendung der Spiegelgesetze von grundlegender Bedeutung sind.
Wenden wir uns nun den Spiegeln in unseren Beziehungen zu, denn unsere Beziehungen zeigen uns sowohl unsere Freuden und Leiden, wie auch unsere Ängste. Wir begegnen unseren Spiegeln auf verschiedenen Ebenen, wobei die ersten, offensichtlicheren den Weg für die tieferen, subtileren Spiegel den Weg bahnen, sichtbar zu werden. Begeben wir uns also auf die Reise von außen nach innen, von offensichtlicheren in tiefere, subtilere Regionen unserer Spiegel.
Stellen wir uns folgende Fragen: „Wie begegnen uns die Menschen unseres Umfeldes? Fühlen wir uns gewürdigt, respektiert, geachtet? Haben wir Freunde? In der ehrlichen Beantwortung dieser Fragen können wir bereits ganz Wesentliches über uns selbst erkennen. Denn wer sich selbst von anderen Menschen nicht respektiert, gewürdigt und geachtet fühlt, kann erkennen, wie er im tiefsten Inneren über sich selbst denkt und fühlt. Er hat manches an sich selbst auszusetzen und kann nicht zu seiner Person stehen. Was ich und wie ich über mich selbst denke und fühle, genau das zeigt mir mein Umfeld in seinem Verhalten mir gegenüber. Wer sich selbst nicht liebt, kann die Liebe anderer nicht empfangen.
Betrachten wir als Beispiel das Problem des sogenannten Mobbings am Arbeitsplatz. Interessant ist, wie dieses Verhalten überhaupt entstehen kann. Das Opfer ist in Wirklichkeit ein unbewusster Schöpfer, auf der einen Seite. Es zieht die Ablehnung und den Hass der Kollegen auf sich, weil es sich unbewusst selbst verurteilt und genauso viele seiner Mitmenschen ablehnt und intolerant und verurteilend über sie denkt. Das ist der Spiegel, den empfängliche Menschen unbewusst spüren und sich entsprechend verhalten und handeln. Für die Mobber ist dieser Mensch ein willkommenes Objekt, die eigenen Frustrationen mit sich selbst, die eigenen Minderwertigkeits- und Ohnmachtsgefühle zu projizieren und sie in sich selbst wiederum zu verleugnen. Mobber und Gemobbte sind sich also gegenseitig Spiegel. Beide sind unbewusste Schöpfer.
Ein anderes Spiegel-Beispiel beruht darauf, dass wir, durch schwierige Umstände bedingt, ganz persönliche Eigenschaften, Teile unseres Selbst, zum Schutz vor Verletzung, stilllegen können. Diese verlorenen Anteile vermissen wir unbewusst. Das Spiegelgesetz kann sie wieder an den Tag bringen. Wenn uns jemand begegnet, der in uns ein Gefühl der Vertrautheit auslöst, sollten wir uns auf diesen Moment einlassen. Für beide Beteiligte geschieht dabei etwas Kostbares: sie haben jemanden gefunden, der etwas besitzt, was ihnen selbst fehlt. Häufig ist diese Erfahrung gegenseitig. Dabei können wir uns die Frage stellen: „Was sehe ich in diesem Menschen, was ich in mir selbst verloren oder aufgegeben habe?“ Wenn andere uns einen Teil unseres wahren Wesens spiegeln, fühlen wir uns vollständiger. Wir alle streben nach Ganzheit und jeder erzeugt individuell Situationen, die ihn dorthin führen. Zu verstehen, was unsere Gefühle für andere sagen, kann ein wertvolles Instrument zur Entdeckung unserer größten Kraft sein.
Bedeutet nun allein das Erkennen eines Spiegels die Lösung der belastenden Probleme? Was können wir effektiv unternehmen, um geheilt zu werden? Es gibt in diesem Universum keine Zufälligkeiten, also kein Pech und auch kein Glück. Alles was geschieht, hat seinen Sinn und kann mit etwas Abstand, und aus neuem Blickwinkel betrachtet, auch verstanden werden. Diejenigen Menschen, die die stärksten Emotionen in uns auslösen, sind die auffälligsten Spiegel. Es macht tiefen Sinn, dass diese Gefühle wie Trauer, Wut, Angst in uns aufsteigen, weil wir sie in uns tragen, oftmals seit der Kindheit. Sind sie deutlich spürbar, wir sollten sie akzeptieren, jetzt da sein lassen und als Teil von uns segnen. Ein „Wegdrücken“ bringt keine Veränderung!
Es gibt noch unzählige andere Spiegel, die uns viel subtilere Ebenen unseres Wesens zeigen können. Der Spiegel steht symbolisch für die psychische Brücke des Menschen zwischen seinem äußeren Ich und seinem inneren Selbst. Sie drückt sich vor allem durch die innere Stimme aus, die dem Menschen hilft, sein Leben zu gestalten. Das Spiegelgesetz zeigt uns, mal mehr, mal weniger leicht erkennbar, wo wir selbst in unserem Leben stehen, es macht uns auf Baustellen aufmerksam, lässt uns in innere Tiefen blicken.
Sr. S. L.