Spirituelle Demut

Zitieren wir zunächst einen Text aus den Archiven des Ordens vom Rosenkreuz über den Hochmut.

„Zahlreich sind jene, die den maßlosesten Hochmut in ihrem Innersten unter dem Anschein von Demut verbergen. Wir begegnen ihnen täglich – und täglich betonen sie vor uns mit Nachdruck ihre Demut. Ohne dass es ihnen wirklich bewusst ist, kämpfen sie gegen ihre eigene Natur an, damit ihre Worte und Handlungen ihre Begierde nach Ehre, ihren Wunsch nach Macht und ihre Überzeugung, anderen überlegen zu sein, bestmöglich verbergen. Aber sobald ihr Verstand zu ermüden beginnt, sobald ihr Wille, sich zu verstellen, schwächer wird, und sobald sich ihre wahre Persönlichkeit enthüllt – im Licht völlig unerwarteter Situationen – fällt die Maske, und der ganze Hochmut, den die Maske bedeckt hat, erscheint in jedem ihrer Worte und in all ihren Reaktionen. Aber noch hochmütiger ist jener, der diese Menschen tadelt, der sie richtet und der den Stein auf sie wirft, denn viele, die das Böse bei anderen sehen, begehen diese Fehler selbst, haben sie begangen oder werden sie begehen. In dieser Hinsicht – mehr als in jeder anderen – möge sich jeder daran erinnern, dass man mit dem Maß gerichtet wird, mit dem man selbst richtet. Demut bedeutet nicht, mit dem Finger auf jene zu zeigen, die Hochmut beweisen – denn das ist unnütz –, sondern es bedeutet vielmehr, selbst die Versuchung zu vermeiden, den negativen Impulsen seines eigenen Egos nachzugeben. Letztlich kann jeder, der nicht Demut vortäuscht, sich selbst die Zeit nehmen, sich selbst zu analysieren und im Spiegel seines Gewissens zu erkennen, dass es noch viel zu tun gibt, und zu lernen, nicht mehr jenen zu gleichen, die zu verurteilen er versucht wäre. Indem er erkennt, dass er selbst unvollkommen ist, kann er verstehen und akzeptieren, dass auch die anderen unvollkommen sind.“

Dieser aussagekräftige Textauszug kann uns alle sehr zum Nachdenken anregen. Der Begriff Demut wird häufig gebraucht, doch leider wird die wahre Bedeutung dieser Tugend oft gar nicht oder falsch verstanden. Es ist sehr wichtig, sich mit der stimmigen Definition vertraut zu machen und die vielfältigen Hintergründe zu erkennen, um dann dieses Wort auch treffend anwenden zu können.  Die Voraussetzung für spirituelle Demut ist, das eigene Ego und den Wunsch nach Dominanz oder Anerkennung wirklich loszulassen. Doch das Ego ist das Eigentliche der menschlichen Individualität. Solange die Seele mit dem physischen Körper verbunden ist, kann sie nur durch die Seelenpersönlichkeit tätig sein, die sie gemeinsam mit dem Ego bildet. Es bringt uns also nicht weiter, wenn wir unser Ego bekämpfen, in der Hoffnung, damit die Demut des Herzens zu erlangen und auszudrücken. Nein, wir müssen unser Ego lieben und annehmen, dabei aber lernen, es zu veredeln, denn wir haben alle eine Aufgabe und auch ein bestimmtes Ziel ‒ in dieser Inkarnation ‒ auf der irdischen Ebene. Wir wissen, dass es darum geht, dem inneren Funken, der unser Wesen belebt, immer mehr Ausdruck zu verleihen. Unsere Seele soll die Chance bekommen, ihr Licht, ihren Wunsch des Eins-Seins mit allem, was ist, zu offenbaren.

Unser Ego ist weder gut noch böse, sondern es ist nur das, was wir aus ihm machen. Somit ist jeder selbst dafür verantwortlich, in welche Richtung sich seine irdische Entwicklung bewegt. Spirituelle Demut fordert, den Wunsch nach Dominanz oder Anerkennung loszulassen. Gleichzeitig hat sie aber nichts mit falscher Bescheidenheit, Schwäche oder „in der letzten Reihe zu sitzen“ zu tun. Ganz im Gegenteil, Demut ist ein Zeichen von Mut, denn zunächst erfordert sie zumindest einen inneren Kampf mit dem objektiven Selbst bis zu jenem Punkt, an dem wir die göttliche Gegenwart in uns spüren können. Ein oft weiter Weg, auf dem wir Dankbarkeit, Bescheidenheit und die Bereitschaft, zu lernen und zu wachsen kultivieren sollten.

Demut heißt auch, unsere eigenen Schwächen, unsere Fehler und Unvollkommenheiten anzunehmen, wenn wir sie erkannt haben, und uns nicht dafür zu verurteilen. Versuchen wir uns einmal vorzustellen, ein neutraler Beobachter zu sein, der die Problematik ohne Groll und Verurteilung erkennt. Es liegt allein an uns selbst, daraus zu lernen und Verbesserungen für eine Veredelung des Egos einzuleiten. Dabei erkennen wir unsere eigene Würde und das Potenzial, zu einem Werkzeug des Guten zu werden.

In vielen spirituellen Traditionen hat Demut auch mit der Bereitschaft des selbstlosen Dienens und Praktizierens von Mitgefühl zu tun – ohne Erwartung einer Gegenleistung oder einer Belohnung. Es ist manches Mal äußerst schwierig, wirklich selbstlos zu dienen. Sehr viele Menschen steigen im Gewand selbstlos Wirkender auf die öffentliche Bühne, doch sie dienen meist nur sich selbst. Ohne äußeres Ego und ohne Erwartung einer Belohnung muss gehandelt werden, ohne das Gefühl, dass man es um der eigenen Erleuchtung willen tut. Es muss um des Kosmos willen geschehen.

Demütig zu sein, bedeutet auch, dass wir vergessen, uns mit anderen zu vergleichen. Es bedeutet, die Sichtweise einzunehmen, dass wir Dienende sind, und zwar unabhängig von unserer Rolle, unseren Verantwortlichkeiten und unserem Platz in der Gesellschaft. Indem wir anderen dienen, finden wir zu uns selbst und tun, was unsere ursprüngliche Veranlagung verlangt.

In jeder spirituellen Praxis bedeutet Demut, sich von einer höheren Kraft führen zu lassen und zu vertrauen, dass uns diese Kraft auf den richtigen Weg leitet. Wir bedienen uns des göttlichen Funkens, der in unserem Inneren lebt, in Verbindung, im Gleichklang mit den inneren Funken aller anderen lebenden Wesen.

Demut ist nicht Selbsterniedrigung oder Passivität, sondern eine aktive, bewusste Haltung des Vertrauens, der Akzeptanz und der Verbundenheit. Sie ist ein Ausdruck innerer Stärke, Weisheit und Liebe, denn sie befähigt uns, andere zu verstehen, bei ihnen zu sein und ihnen bei jeder Begegnung mit Trost, Ermutigung und Hilfe zur Seite zu stehen.

Demut bedeutet im geistig-spirituellen Sinn das Erkennen und Akzeptieren unserer eigenen Begrenztheit und zugleich die Verbundenheit mit etwas Höherem, Größerem, sei es Gott, sei es das Universum oder die Natur. Es bedeutet, sich selbst nicht als Mittelpunkt des Geschehens zu sehen, sondern als Teil eines größeren Ganzen.

Sr. S. L.