Die Qabalah

Obwohl es falsch wäre, den Martinismus mit der Qabalah gleich zu setzen, gibt es im System von Martinès de Pasqually eine gewisse Verwandtschaft mit diesem Bereich der jüdischen Mystik. Insbesondere Spanien war zu jener Zeit ein Zentrum der höheren Mystik und der Qabalah. Pasqually, auf Grund seiner Abstammung väterlicherseits spanischer Herkunft, folgte laut Jean-Baptiste Willermoz seinem Vater, der in Spanien lebte. Man geht daher davon aus, dass Pasqually mit den in Spanien präsenten Qabalisten zusammen gekommen war, eine Annahme, die auch durch Pasquallys militärische Laufbahn Bestätigung findet. Vermutlich bestand bereits in der Zeit des Vaters eine Gruppe von „Prä-Cohens“, auf deren Überlieferungen die Konstitution der späteren Elus-Cohens beruht. Pasqually selbst behauptet, seine Kenntnisse seien ein esoterisches Erbe, das schon seit drei hundert Jahren im Besitz seiner Familie sei. Seine Familie habe diese Dokumente durch die Inquisition empfangen, bei der eines der Mitglieder seiner Familie mitgewirkt habe. Diese schriftlichen Unterlagen sind allerdings nicht erhalten geblieben, so dass sich nicht mit Bestimmtheit sagen lässt, ob es sich dabei um Dokumente handelte, die die Kenntnisse und die Praxis enthalten, die Pasqually weitergegeben hat oder ob dieses Erbe, das seine Familie überlieferte, von einer initiatorischen Gesellschaft stammt.

Klar ist allerdings, dass Martinès de Pasqually von Emmanuel Swedenborg, dem bekannten schwedischen Wissenschaftler, Arzt, Politiker und Hellseher in London eingeweiht wurde und auf Grund seiner fundierten rituellen Kenntnisse den Auftrag erhielt, das System der rituellen Tradition aufzubauen. Daher kann man in dem von Pasqually reformierten martinistischen Gradsystem einen angepassten Swedenborg-Ritus sehen.

 

Bei der Lektüre des „Traités sur la Reintegration des Êtres“, des Textes, mit dem Pasqually die Gesamtheit seiner Lehre zusammengefasst hat, findet man immer wieder erklärende Elemente, deren Ursprung in der talmudischen, rabbinischen und kabbalistischen Welt zu finden ist. Viele Details beleben auch die jüdisch-christliche Esoterik, wie sie im Urchristentum zu finden ist. Man würde also Unrecht daran tun, Pasqually als einen Qabalisten zu bezeichnen, denn weder seine Theurgie noch seine Philosophie sind in einem eigentlichen Sinne qabalistisch. Die Lehren entsprechen eher dem Ur-Christentum, wie es in der Frühzeit war, also nicht dem römisch-katholischen Glauben, wenngleich Pasqually sich immer wieder vergleichend auf diesen beruft. Pasqually denkt wie ein Christ vor dem Ersten Konzil. Für ihn ist Jesus als Christus ein Prophet, der im Verlauf der  Zeiten unter verschiedenen Namen inkarnierte. Auch wenn die verschiedenen jüdisch-christlichen Bewegungen, die die Quelle des Christentums bilden, innerhalb der Kirche nach den ersten Konzilen verdrängt worden sind, ist es doch wahr, dass einige von ihnen lange genug fortbestanden haben. So ist zu vermuten, dass eine jüdisch-christliche Tradition in Spanien weitergelebt hat und dass Pasqually einer ihrer Nachfahren war.

Entsprechend der Schriften von Pasqually beruht das System der Elus-Cohens auf den Lehren, die Seth, der dritte Sohn von Adam, von einem Engel empfangen habe. Dieses Wissen lehrt die korrekte Ausführung der Riten, die es dem Menschen erlauben, sich mit Gott zu versöhnen. Die Nachkommen von Seth und Enoch verdarben dieses Wissen bis zu dem Punkt, an dem es unbrauchbar wurde. Anschließend wurde Noah dieses Wissen vermittelt, das auch für die Elus-Cohen von großer Bedeutung war. Pasqually behauptet, dass die Riten, die durch die Elus-Cohens weitergegeben werden, dieser Linie entstammen. Der von Martinès de Pasqually gegründete Orden war somit eine theurgische Gesellschaft. Dieser Orden beruht auf einem besonderen theosophischen System, dessen Herkunft im Nebel der Geschichte verborgen liegt. Seine Mystik ist christlicher Art, aber in einem ganz besonderen Sinn, denn sein Christentum leitet sich aus den jüdisch-christlichen Wurzeln des Ur-Christentums her.