DER WEG ALS METAPHER DER TRANSFORMATION Auch wenn sich diese Blüte in einem gewissem Sinne in der Verborgenheit entfaltet, so ist sie doch keineswegs eine Abstraktion, die vom Leben losgelöst ist. Diese verborgene Blüte kommt vielmehr gerade in der Eigenart zum Ausdruck, wie wir mit unserem alltäglichen Leben umgehen. Sie trägt gewissermaßen Früchte, die darin sichtbar werden, wie wir mit unserer Umgebung, unseren Mit- menschen und mit uns selbst umgehen – eine Art und Weise des Umgehens, die sowohl unser eigenes Leben als auch das der anderen vertieft und erhebt. Wir alle kennen Menschen, vielleicht aus Geschichten oder aus persönlicher Erfahrung, die etwas Besonderes aus- strahlen: Eine gewisse Wärme, eine Art des bedingungslosen Interesses für ihre Umgebung und eine Klarheit des Geistes, die ansteckend wirkt und inspiriert. Und dies nicht etwa, weil deren Lebenslage dazu Anlass gibt oder weil sie uns gar be- sonders gerne mögen, sondern vielmehr deshalb, weil die Qualitäten von Wärme, Interesse und Klarheit offensichtlich zu der Art ihres Seins gehören. Manchmal neigen wir dazu, Menschen, die aus einer tieferen Vision heraus handeln, als sehr außergewöhnlich und geistig weit über uns erhaben zu betrach- ten; als Menschen, die eine Geisteskraft besitzen, an die wir nicht heranzureichen scheinen. Doch wenn wir zu diesen Menschen aufschauen, dann deswegen, weil wir in ihnen etwas wiedererkennen. Diese Geisteskraft und Lebensfreude, die wir in ihnen erkennen, sind uns im Wesentlichen nicht fremd. Wenn wir zu diesen Menschen aufschauen, dann deshalb, weil wir durch sie daran erin- nert werden, dass auch in uns selbst – in unserem tiefsten Inneren – eine verbor- gene Blüte lebt, die vielleicht nur noch keine Früchte trägt.Damit haben wir bereits einen Weg vor uns, eine Ziel- vorstellung, die auch wir gerne erreichen möchten. Ein Weg der Entwicklung liegt vor uns. Ein Weg, der einerseits trennt, d.h. unser jetziges Dasein und unsere Zielvorstellung von einem glücklichen Leben fallen auseinan- der – aber auch ein Weg, der verbindet; wenn wir diesen Weg gehen, so gelangen wir ans Ziel, so denken wir, ist zumindest unsere Vorstellung und Hoffnung. Metaphorische Wege Auch in unserer Alltagssprache beschrei- ten wir permanent metaphorische Wege. Manchmal gehen wir neue Wege oder auch unseren eigenen Weg. Scheint dies erfolgreich zu sein, befinden wir uns auf dem besten Weg. Erneuern wir verloren gegangene Kräfte, befinden wir uns auf dem Weg der Besserung. Schwierigkeiten sind Steine, die wir in den Weg gelegt bekommen. Behindern wir andere in ihren Entscheidungen, stehen wir ihnen im Weg. Will uns jemand fördern, ebnet er uns den Weg... Viele derartige Metaphern sind so all- täglich geworden, dass sie abgegriffen und unbedeutend zu sein scheinen. Aber gerade diese vermeintlich toten Metaphern prägen und strukturieren unser Denken. Metaphern sind ein nicht zu unterschätzendes Kommunikations- mittel. Sie erzählen in Begriffen unserer Wirklichkeit von der anderen, der verbor- genen Seite unseres Daseins. So bildet die erwähnte Metapher vom Lebensweg einen abstrakten Begriff, das Leben, in Worten eines anderen, mehr konkreten Erfahrungsbereiches ab. Eben als Weg, den sog. Lebensweg, der weitaus mehr ist als ein bloßes Unterwegssein. In ihm werden all unsere Gedanken, Ent- scheidungen und Verantwortlichkeiten, unsere Träume, Wünsche und Sehnsüchte gebündelt, eben alles, was uns als Men- schen ausmacht. Nur ein Mensch kann sich bewusst dazu entscheiden, sich auf den Weg zu machen. Selbstfindung und Wandlung des Helden Der Weg ist die beliebteste Metapher für unser Dasein als Menschen. Den Le- bensweg zu bewältigen, ist im Mythos die Heldenreise. In Märchen und Mythen spiegelt sich das archetypische Motiv der Wanderung im Bild des „sich auf den Weg Machens“ des Helden wider, das als Symbol der Selbstfindung und Wandlung des Helden verstanden werden kann. In vielen religiösen Traditionen ist der Weg Symbol für die Suche nach dem Göttli- chen und dem wahren Selbst. Buddha lehrte den ‘achtgliedrigen heiligen Pfad‘, im alten Indien war ‘magra‘ der Heilsweg 38 und im Sufismus wird der Zugang zur mystischen Schau ebenfalls als Weg, als ‘tariqa‘ bezeichnet. Das Wort Weg wird allein im Alten Testament über 700 Mal in den verschiedensten Bedeutungsebenen genannt. Der Weg gilt als Metapher für den Transformationsprozess, für die Wandlung des Menschen – in dem Sin- ne, dass die verborgene Blüte im Außen sichtbare Früchte trägt. Auch wenn der Weg Erfüllung verheißt, Verwirklichung, Versöhnung, Befreiung, Erleuchtung oder wie auch immer das in einer gegebenen Tradition genannt werden mag, so wirkt das Endziel in der Praxis kaum als eine Quelle der Inspi- ration. Menschen können einem alles Mögliche zurechtfantasieren; aber im konkreten Alltag, in den persönlichen Begegnungen zeigt sich dann oft ein eklatanter Mangel. Die tatsächliche Ins- piration erleben wir in den Fortschritten, die wir machen, weniger in himmlischen Phantasien, das heißt tatsächlich auch im Alltag und wie wir mit unseren günstigen und ungünstigen Umständen umgehen. Hier im Konkreten zeigen sich dann die Früchte der verborgenen Blüte. Es stellt sich die Frage, inwieweit eine solche Entwicklung die Frucht der Arbeit an sich selbst – oder der Gnade ist. Ein Hinweis zur Beantwortung dieser Frage könnte sein, dass in allen spirituellen Disziplinen geistige Übungen, das Ver- richten von Arbeit und Studium gepflegt werden, um unserer grundlegenden Menschlichkeit Raum zu verleihen und diese in unserem Denken, Sprechen und Handeln zu kultivieren. Das ist realisier- bar; wir Menschen sind dazu in der Lage, auch wenn dies nicht von alleine und nicht ohne Schmerz und Mühe zu gehen scheint. Wir müssen natürlich gar nichts, aber wenn wir etwas erreichen wollen, dann schon. Oder anders ausgedrückt, wir müssen uns der Gnade schon als würdig erweisen…